Sarah Fyrguth

Zeitlichkeiten als gestaltende Subjekte und zu gestaltende Objekte in Entwurfsprozessen

Fachbereich Design

Gestalterische Entwurfsprozesse sind räumliche wie zeitliche Phänomene. Während die räumliche Dimension der Tätigkeit des Designs – aufbauend auf der theoretischen Strömung des Neuen Materialismus sowie insbesondere der Akteur-Netzwerk-Theorie – zunehmend in den Fokus der Forschung rückt, werden temporale Aspekte gegenwärtiger Entwurfspraktiken in der Designforschung noch unzureichend erfasst. Dabei wird die gestalterische Tätigkeit von unterschiedlichen Erscheinungsformen der Zeit durchdrungen. Zeit ist nicht bloß eine messbare Größe, sondern wird von Gestalter:innen in ihren Prozessen verschiedener wahrgenommen und als verzerrt, angereichert, retroaktiv, fluide, stockend oder urplötzlich aufgefasst. Beispielsweise in chronobiologischen Rhythmen, gestalterischer Erfahrung, Ästhetiken und Stilen manifestiert sie sich als erlebbare Dimension des Entwurfsprozesses.

Von besonderem Interesse sind, nachdem in Protokollstudien der 1990er bis 2000er Jahre [1] bereits zahlreiche Messungen quantitativer Zeit in Designprozessen angestellt wurden, die qualitativen Aspekte der Zeit innerhalb solcher Prozesse. Behandelt wird also vorrangig eine Zeitlichkeit im Designprozess, die als subjektive temporale Wahrnehmung oder, in Anlehnung an Bergson, als »Dauer« [2] begriffen werden kann. So ergibt sich die Frage, wie qualitative Zeitlichkeit den Entwurfsprozess beeinflusst und wie ihre Gestaltung Designergebnisse prägen kann.

Die Untersuchung beginnt mit einer systematischen Analyse von Erwähnungen und Betrachtungen qualitativer Zeit in Designtheorie und Praxis, die sich in grafischen Prozessdarstellungen, designforscherischen Schriften, hochschulischen Lehrplänen und gestaltungspraktischen Reflexionen finden lassen. Mittels diskursanalytischer Methoden wird herausgearbeitet, welche Konzeptionen von Zeit innerhalb von Designprozessen historisch implizit wie explizit verhandelt wurden und inwiefern diese Auswirkungen auf die gestalterische Praxis hatten und haben. 

Hierauf aufbauend wird der Frage nach weiteren methodischen Potenzialen der (qualitativen) Zeitgestaltung im Designprozess gegangen. Prozessansätze wie »Reflection in Action« [3] oder »Adhocism« [4] legen nahe, dass auch nicht-quantitative Zeitlichkeiten als gestaltbare Parameter mit Werkzeugcharakter aufgefasst werden können. Das Verständnis von Zeit als wahrnehmungsgebunden richtet den Blick außerdem auf die Wahrnehmung selbst sowie die Mittel von Wahrnehmung, hier Körperlichkeit und (Entwurfs-)Medien. So führt die Frage nach der Zeit zurück zur Dimension des Raumes, zu Medien und Material, sowie den daran gebundenen spezifischen Erfordernissen, die ausgehend von medientheoretischen und arbeitspsychologischen Positionen verhandelt werden. [5]

Die Forschungsfrage zielt auf das Verhältnis der Zeit im Entwurfsprozess – in qualitativer wie quantitativer Form –, deren aktiver Gestaltung und den Qualitäten der resultierenden Ergebnisse. Es werden zwei Ansätze der Designforschung kombiniert um Design auch durch Design zu erforschen: Experimentelle Eingriffe in Gestaltungsprozesse und eine im Kommunikationsdesign situierte, rekursive, künstlerisch-gestalterische Forschungsarbeit. Vor diesem Hintergrund strebt die Arbeit so an, über ein Zusammendenken von Zeit und Raum, einen Beitrag zum Verständnis gestalterischer Prozesse zu leisten.

Betreuende:
Prof. Dr. Tom Bieling
​​Prof. Adrian Nießler

[1] Cross, Nigel (2001): Design cognition: results from protocol and other empirical studies of design activity. In: Eastman, C.; Newstatter, W. & McCracken, M. (Hrsg.): Design knowing and learning: cognition in design education. Oxford, UK: Elsevier, S. 79–103.
[2] Bergson, Henri (2016): Zeit und Freiheit. Meiner Felix Verlag. (Original von 1911, französisches Original von 1889)
[3] Schön, Donald (1983). The Reflective Practitioner: How Professionals Think in Action. London: Temple Smith. 
[4] Jencks, Charles & Silver, Nathan (2013): Adhocism. The case for Improvisation. MIT Press.(Original von 1972.)
​[5] vgl. Mareis, Claudia (2020): Zeitlichkeit des Entwerfens. Visuelle Prozessmodelle und ihre temporale Bedeutung. In: Visuelle Zeitgestaltung. De Gruyter.

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S. 046-047, 038–039, 230-231

aus:
​Gestaltung als Prozess.
​Sarah Fyrguth, 2023.

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