Experience, body, vulnerability. The phenomenology of Jean Améry's physical vulnerability
Department of Art
Das Ziel meines Dissertationsprojekts ist eine Aktualisierung der politischen Phänomenologie Jean Amérys. Seine Reflexionen über persönliche Erfahrungen als Widerstandskämpfer gegen das dritte Reich, als Jude und Auschwitz-Überlebender konzeptualisiere ich als epistemologisches Projekt, das Erkenntnisgewinn aus der erstpersonalen, subjektiven Perspektive heraus in den Fokus rückt und somit Wissen neu vermisst.
Mit Améry eröffnet sich eine Perspektive, die verkörpertes Wissen zentriert. Jede Erfahrung, die wir machen, schreibt sich in den Körper ein und ändert damit unseren Zugriff zur Welt (vgl. Améry 2002a, S. 79). Er geht also nicht einfach von einem alternativen Körperwissen aus, das eine für alle zugängliche objektive Realität um ein subjektives Wissen erweitert. Vielmehr greift er Objektivität als solche an, sofern diese sich mit politischen – und für ihn damit immer auch moralischen – Fragen beschäftigt (vgl. Améry 2002a, S. 130–131). Dies liegt auch an seinen negativistischen Zugriff auf Erkenntnis: Wissen, das immer nur verkörpert erlangt werden könne, denkt er nicht wie der berühmte Leibphänomenologe Maurice Merleau-Ponty auf einen Idealzustand hin, sondern Amérys Denken geht von Momenten aus, in denen der Mensch gerade am freien Selbstentwurf scheitert. Seine Perspektive ist die der Negation und Verletzung, denn er leitet sein Wissen gerade aus der Verunmöglichung des Selbstentwurfs her, welche aus körperlich zugefügtem Leid resultiert. Das klassisch phänomenologische „Ich kann“ (Merleau-Ponty 1974, S. 166) verkehrt sich so in seine negative Unterseite, einem „Ich kann nicht“. Foltererfahrungen behandelt Améry in seinem Werk genauso wie Prozesse des Alterns und den Freitod (vgl. Améry 2002a, 2002b, 2014a, 2014b). Erkenntnis als einverleibte Erfahrung stellt für Améry also eine Abweichung der klassisch-phänomenologischen Norm des freien und fähigen, zum Selbstentwurf hinstrebenden Subjekts dar. Sie ist ein erzwungener epistemischer Vorrang, der sich aus körperlich zugefügten Leid ergibt.
Aus Amérys Primat der Erfahrung der ersten Personen-Perspektive und seinem verkörperten Verständnis negativistischer Erkenntnis ergeben sich spannende Fragestellungen: In welcher Beziehung stehen Wissen und Körper zueinander? Auf welche Weise erhebt Amérys epistemologische Methode der subjektiven Introspektion Anspruch auf eine Verallgemeinerbarkeit auf politischer und moralischer Ebene? Geht mit der Anerkennung begrenzender Selbstentwürfe auch eine Handlungsermächtigung gegenüber herrschenden Verhältnissen einher? Inwiefern kann seine phänomenologische Beschreibung der physischen Versehrtheit gegenwärtige Diskurse erweitern, die von verkörperten Standpunkten ausgehen und das hegemoniale Wissensverständnis deuniversalisiert sehen wollen?
Meine These an dieser Stelle lautet, dass Amérys negativistischer Erkenntnisbegriff der Versehrung feministische Standpunktheorien um eine phänomenologisch-verkörperte Perspektive erweitert. bell hooks zufolge vollzieht sich weiße Herrschaft (auch) über die Kontrolle von weiblichen Körpern (vgl. hooks 1984, S. 52) und Donna Haraways Kritik fußt auf der vermeintlichen Entkörperung herrschender Positionen (vgl. Haraway 1995, S. 87), um nur zwei Standpunktheoretikerinnen zu nennen. Trotzdem bleiben beide Denkerinnen seltsam abstrakt, wenn es um den physischen Körper geht. Bei Beiden nimmt die jeweilige Positioniertheit einen großen Stellenwert ein und jedes Wissen wird als situiert, d.h. nicht freischwebend angenommen; der physische Körper wird trotzdem auf den hinteren Platz verwiesen. Es geht oft um abstrakte Begriffe wie die Deuniversalisierung und Dezentrierung von Wissen, aber das Fleisch kommt nicht vor.
In dieser Lücke setze ich mit Améry ein, dessen ganze Epistemologie vom Körper ausgeht. Indem ich sein Denken als Erkenntnistheorie herausarbeite, soll also zugleich das Primat der körper-leiblichen Erfahrung innerhalb standpunkttheoretischer Ideen gestärkt werden.
Betreuende:
Prof. Dr. Juliane Rebentisch