Schlummert ein ihr matten Augen…

vor 13 Jahren
Ries

Vortrag von Prof. Dr. Marc Ries im Rahmen der interdisziplinären Vortragsreihe »Medienkultur und Bildung im Zeitalter digitaler Netzwerke« der Philipps-Universität Marburg, der Goethe-Universität Frankfurt und der hessischen Film- und Medienakademie (hfMA) im Sommersemester 2012:

»Schlummert ein ihr matten Augen…
Zu einer möglichen Assoziation von Todestrieb und ästhetischer Erziehung«

09. Mai 2012, 18 Uhr

Ort: Frankfurt, Casino R. 1801, Campus Westend, Goethe-Universität

Bach´s Kantate 82 feiert die bewusst-willentliche (»Ich habe genug«), zudem fröhliche oder wie ein Wiegenlied komponierte Verabschiedung vom Leben, tut dies mit einer literarischen (Bibel-)Chiffre, die zum einen Verzicht auf das Sehen und den eigenen Platz in der Welt, zum anderen, »das schöne: Nun!«, den Tod, herausfordert. Ist die Kantate christo-mythologischer Heils- und Erlösungslehre verpflichtet, oder doch bereits Ausdruck einer hoch individuierten Kulturtechnik? Einer ästhetischen Erziehung zum Tode hin? Immerhin wird die Todessehnsucht in einen sublimen Raum überführt, den aus Musik und Gesang, in welchem ein in Melodien und Texten aufgehobenes Sterben innerhalb der früh-bürgerlichen Welt möglich wird.

Die Kantate mag sich wie eine frühe Manifestation der Überlegungen Freud´s zum Todestrieb anhören, als der Wunsch allen Lebens, »aus inneren Gründen« ins Anorganische zurückzukehren. Das herbeigerufene Sterben wird aber auch äußere Gründe vorfinden. Etwa, wenn in Rossellinis Germania Annno Zero der junge Edmund hoch oben in einem Berliner Trümmerhaus sich die Hand vor die Augen hält, nicht mehr Sehen und Verstehen will, und sich in die Tiefe stürzt. Töne und Bilder waren seit jeher auch »Trabanten des Todes« (Freud).

Interessant ist jedoch die Funktion der Technik innerhalb dieser Zuschreibung. Mit der Aufnahme der Kantate durch eine Reproduktionstechnik vermag sich die Verabschiedung endlos zu wiederholen. Im Hören wiederhole ich die Bewegung vom Leblosen zum Leben und wieder zurück zum Leblosen. Diese absichtsvolle Hinwendung zum Technisch-Leblosen, dieses im lustvollen Wiederholungszwang ausgeführte Genießen innerhalb einer ästhetischen und massenmedialen Erziehung lässt sich in vielen »Sekundärmedien« und Apparaturen wiederfinden. Etwa in Videofilmen, Computerspielen und Netzapplikationen. Dies gilt es zu auszuführen.
(Text: Marc Ries)

08.05.12

Weitere Informationen:
Veranstaltungsreihe der hessischen Film- und Medienakademie (hFMA), der Philipps-Universität Marburg (Malte Hagener) und der Goethe-Universität Frankfurt (Vinzenz Hediger). Gesamtprogramm und Aktualisierungen unter: www.medien-bildung.eu.