Vortrag von Diedrich Diederichsen
Ästhetische Kategorien unterliegen historischen Entwicklungen. Das (dynamische) Erhabene, eine ästhetische Erfahrung, die von dem menschlichen Verhältnis zur Natur her gedacht wurde, müsste unter den Bedingungen einer fortgeschrittenen ökologischen Krise neu konzipiert werden. Hat das Gefühl der Überlegenheit über die Natur uns in deren Zerstörung eingeübt? Oder ist das Erhabene nicht längst von einem Bild der Natur als System abgelöst worden? An die Stelle des furchterregenden, tosenden Meeres oder des alpinen Abgrunds, dem sich in der Erfahrung des Erhabenen das Subjekt dank seiner Willenskraft entgegenstellen kann, sind Bilder getreten, die wie Karten funktionieren, fotografiert von Menschen mit Kameras, die vom Weltall aus auf die Natur der Erde blicken: der ganze blaue Planet, der für ein fragiles, jederzeit bedrohtes System aus Homöostasen und Equilibrien steht, und dessen einstige Unermesslichkeit von einem Blick der Sorge eingehegt worden ist. Hat ihm das geholfen? Und hat es der Kunst geholfen, die auf der Suche nach angemesseneren ästhetischen Antworten auf die ökologische Krise unterwegs ist – von ZKM 2020 bis documenta 2022? Oder wäre es doch möglich, über die Erfahrung von etwas, »was durch seinen Widerstand gegen das Interesse der Sinne unmittelbar gefällt« (Kant), sich dem zu stellen, was den Planeten heute bedroht?
10. Januar 2023, 18:30 Uhr